Obwohl das Thema ,,Hochsensibilität„ besonders in den letzten Jahren in den Medien und Sozialen Netzwerken immer wieder aufgetaucht ist, wissen noch viel zu wenig Menschen davon. Oft kursieren auch falsche Informationen oder Halbwahrheiten. Das liegt vor allem daran, dass Hochsensibilität im großen Rahmen erst in den 1990er Jahren wissenschaftlich entdeckt und erforscht wurde.
Natürlich gab es Vorreiter wie z.B. Pawlow (1849 – 1936), der herausfand, dass ca. 15-20 % der Menschen intensiver auf Reize reagieren als die restlichen 75- 80 %. Er ging davon aus, dass dies auf eine grundlegend andere Beschaffenheit des Nervensystems zurück zu führen sei. Auch Kretschmer beschrieb 1919 im Rahmen seiner Charakterstudien den sensitiven Menschen als ,,[…] empfindsam[…], weltabgewandt, gedrückter Stimmung, überzart, feinsinnig“.
Als Pionierin auf diesem Gebiet gilt jedoch die amerikanische Psychologin Elaine Aron. Sie prägte den Begriff der Hochsensibilität. Obwohl sich inzwischen auch andere Wissenschaftler mit der Thematik beschäftigen, steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen und es dauert wohl noch einige Zeit, bis das Thema ganz in unserer Gesellschaft angekommen ist.
Jeder ist sensibel, oder etwa nicht? Stimmt! Denn Sensibilität beschreibt einfach unsere Fähigkeit, Informationen über die Umwelt wahrzunehmen und zu verarbeiten.
Auch wenn es sich für den ein oder anderen so anfühlen mag: Hochsensibilität ist keine Krankheit, die es zu heilen oder lindern gälte. Es gibt von daher auch keine Diagnose, die im DSM V oder in der ICD10 verankert wäre. Die Hochsensitivität ist vielmehr ein angeborenes Wesensmerkmal oder eine Art Temperament. Ca. 15 – 20 % der Menschen gelten als hochsensibel – unabhängig von Geschlecht oder kultureller Zugehörigkeit. Dieser Prozentsatz wurde auch bei über 100 Tierarten festgestellt. Es scheint also nicht nur für unsere Spezies wichtig zu sein, dass ein Teil der Gesellschaft besonders sensibel ist.
Aron geht davon aus, dass die meisten HSP introvertiert (ca. 70 %) und ca. 30% extrovertiert sind. Daneben gibt es noch einen kleinen Teil der sog. ,,High sensation seekers“. Diese Menschen langweilen sich leicht und suchen deshalb immer wieder hohe Stimulation und Kicks (sind aber nicht impulsiv). Danach benötigen sie viel Zeit zur Erholung. Durch diesen ständigen Wechsel kann es sich anfühlen, als stünden sie mit einem Fuß auf dem Gaspedal und gleichzeitig mit dem anderen auf der Bremse, immer hin und her gerissen zwischen Abenteuer und Langeweile.
Nach Elaine Aron lässt sich Hochsensibilität durch vier Hauptmerkmale erkennen: Gründliche Informationsverarbeitung, Übererregbarkeit, emotionale Intensität und sensorische Empfindlichkeit.
1. Merkmal: Gründliche Informationsverarbeitung
Wir hochsensiblen Menschen nehmen mehr Reize und Sinneseindrücke auf als andere Menschen. Zudem benötigt unser Gehirn länger, diese zu verarbeiten. Alle Menschen sind tagtäglich unzähligen Reizen ausgesetzt: von Werbung über Gesprächen mit anderen bis zu Müdigkeit als Beispiel für einen inneren Reiz. Um im Alltag überleben und gut funktionieren zu können, filtert unser aller Gehirn unwichtige Informationen heraus, sodass nur wirklich Wichtiges im Gehirn ankommt und verarbeitet wird. Dieser Filter ist grundsätzlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich – je nach Prägung, Werten, Vorlieben usw. Legt man z.B. verschiedenen Personen das selbe Bild einer Landschaft vor, wird jedem etwas anderes auffallen, das vom anderen vielleicht gar nicht bemerkt wird.
Wir hochsensiblen Menschen haben in diesem Bild gesprochen einen kleineren Filter als die übrigen Menschen. So kommen viel mehr Reize und Informationen in unserem Gehirn an – Details, Kleinigkeiten, die andere nicht bemerken oder auch gar nicht wahrnehmen können. Z.B. riechen es viele Hochsensitive viel früher als ihr Partner, wenn ein Lebensmittel verdorben ist. Diese hohe Informationsdichte will nun nicht nur aufgenommen, sondern auch verarbeitet werden. Das dauert bei uns deutlich länger. Auch werden die ankommenden Informationen von uns viel tiefer und gründlicher verarbeitet als bei ,,normal sensiblen Menschen“. Erlebtes hallt noch lange nach. Ein bewegender Kinofilm lässt Hochsensible noch tagelang in Gedanken und im Nachfühlen sein. Die letzte Teamsitzung wird immer und immer wieder durchdacht und durchlebt, bis alle Gedanken und Gefühle geordnet sind und sich gesetzt haben.
2. Merkmal: Übererregbarkeit
Durch die erhöhte Reizaufnahme und Verarbeitungsintensität sind hochsensible Menschen leichter erregbar. Deshalb wird schnell alles zu viel und es kommt zur Reizüberflutung. Meist mündet das dann noch in ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit. Ein Schutz gegen all die vielen Eindrücke fehlt. Es gibt jede Menge Quellen für Stimulation: äußere Reize wie z.B. Geräusche, eine Gesprächssituation (soziale Stimulation) oder auch innere Eindrücke wie Hunger oder Schmerzen.
Eine typische Situation, die wohl die meisten Hochsensiblen kennen, ist das Einkaufen. Grelles Licht, Musik aus den Lautsprechern, die Gespräche der anderen Kunden, das schreiende Kind, die riesige bunte Produktauswahl, ethische Fragen (Soll ich ein Bioprodukt kaufen oder ein herkömmliches? Regional oder lieber fair trade? In Plastikverpackung oder nicht? usw.), Gesundheitsfragen (frisches Gemüse oder tiefgefroren? Magerquark oder Vollfettstufe? …), Schwitzen unter der dicken Winterjacke, Zeitdruck, Angst, nichts zu vergessen … – der pure Stress. Den spüren viele unmittelbar etwa in der Beschleunigung von Herzschlag und Atmung, Verspannungen, Sprachlosigkeit, roten Flecken im Gesicht, Kopfschmerzen, Wut, Gereiztheit, ,,Kopflosigkeit“, Wunsch nach Distanz und Rückzug. Hochsensible Menschen haben allgemein einen kleinen Wohlfühlbereich. Sie fühlen sich leicht von Kleinigkeiten gestört (Schmatzen, ein Falz in der Hose, tickende Uhr, ein schief hängendes Bild…) und können nur ganz entspannen, wenn ,,alles in Ordnung“ ist.
3. Merkmal: Emotionale Intensität
Wir hochsensiblen Menschen haben sehr starke Emotionen. Das bezieht sich auf die ganze Gefühlspalette: von traurig oder ängstlich über wütend bis hin zu freudig, dankbar oder begeistert.
Alles fühlen wir intensiver. Das kann sich manchmal auch bedrohlich oder überwältigend für uns anfühlen. (,,Ich werde von Gefühlen überrollt und kann mich nicht dagegen wehren.“) Hochsensible sind leicht verletzlich. Auch die leiseste Kritik trifft sie hart. Gleichzeitig tun Ermutigung und Lob unendlich gut und sie können lange davon zehren. Um sich selbst zu schützen, versuchen sie aber sehr oft, ihr intensives Gefühlsleben vor anderen zu verbergen. Das trifft vor allem auf Männer zu, denn in unserer Gesellschaft gilt ein offener Umgang mit Gefühlen leider noch als eher unmännlich.
4. Merkmal: Sensorische Empfindlichkeit
Hochsensible Menschen hören, riechen, schmecken, fühlen, sehen mehr / intensiver als andere Menschen. Dabei sind jedoch nicht die Sinne stärker ausgeprägt, sondern es werden (wie oben beschrieben) vom Gehirn mehr Reize aufgenommen und gründlicher verarbeitet.
In der Tabelle sind einige Beispiele zur Veranschaulichung angeführt:
Sinn | Stärken/ angenehm | Schwächen/ unangenehm |
Sehen | Freude an einem schönen Bild oder Landschaft, Blick für Details (z.B. Rechtschreibfehler werden sofort bemerkt, Sinn für Ästhetik | Lichtempfindlichkeit (z.B. Bildschirme), Kopfscherzen bei zu schneller Bilderfolge (z.B. TV) |
Hören | Genuss von wohlklingender Musik oder Naturgeräuschen, Rhythmusgefühl, absolutes Gehör | Geräuschempfindlichkeit, Schmatz-geräusche stören, leicht schiefe Töne in einem Musikstück lösen großes Unbehagen aus |
Riechen | Zarter Blumenduft, Geruch von Holz oder frisch gemähtem Rasen, ätherische Öle | Starker Parfumgeruch, Weichspüler, Zigarettenrauch |
Schmecken | Feiner differenzierter Geschmackssinn, Genießen von gut abgestimmten Speisen | Verwürzte Speisen |
Fühlen | Massage, sanfte Berührungen, Streicheln eines Tieres, Sex, feiner Tastsinn (z.B. Osteopath) | Synthetische Stoffe auf der Haut, Anfassen von Watte, Falten in der Kleidung, Kälte-/ Wärmeempfindlichkeit, Schmerzempfindlichkeit |
Viele der Beispiele werden natürlich auch von ,,Normalsensiblen“ als angenehm bzw. unangenehm empfunden. Für Hochsensible sind diese Sinneseindrücke aber um ein Vielfaches intensiver. So kann es sein, dass eine hochsensible Person den Raum verlassen muss, weil ihr vom Parfumgeruch der Arbeitskollegin übel wird und sie Kopfschmerzen bekommt, während jemand anderes es gar nicht bzw. nicht als so unangenehm wahrnimmt.
Weitere Eigenschaften hochsensibler Menschen
Es gibt noch eine Menge weiterer Eigenschaften, die wir hochsensiblen Menschen teilen. Um sie besser differenzieren zu können, möchte ich sie extra erwähnen.
Hochsensible Menschen haben eine ausgeprägte Phantasie. Sie haben eine lebhafte Vorstellungskraft und ein reiches buntes Innenleben. In ihrem Inneren spielt sich sehr viel ab. Auch haben sie intensive und lebhafte Träume. In dem Zuge sei auch die hohe Kreativität nicht zu vergessen. Wir finden viele Künstler, Musiker, Poeten, Autoren und ähnliches unter den Hochsensiblen. Sie haben auch einen ausgesprochenen Sinn für das Schöne, Ästhetik.
Hochsensible Menschen können komplex denken. Sie denken in größeren Zusammenhängen und auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Sie denken quasi über das/ihr Denken nach. Da sie leicht eine Metaperspektive einnehmen können, gelingt es ihnen gut, ihr eigenes Denken und Handeln zu reflektieren. Dazu kommt das Interesse am eigenen Innenleben. Hochsensitive Menschen setzen sich viel mit sich selbst auseinander. Sie sind wissbegierig und möchten Zusammenhänge verstehen – nicht zuletzt ,,was die Welt im Innersten zusammenhält“. Auch hier gibt es tiefes Nachdenken über den Sinn des Lebens und ein Ausstrecken nach Spiritualität.
Eine weitere Eigenschaft hochsensitiver Menschen ist Besonnenheit. Obgleich sie natürlich auch immer wieder neue Impulse brauchen und neue Dinge ausprobieren können, handeln sie nicht impulsiv. Sie wägen vorher genau ab, scheuen eher das Risiko und sind auf Sicherheit bedacht. Das ist unter dem Aspekt der leichten Übererregbarkeit nur all zu verständlich. Hochsensible sind schreckhaft, oft ängstlich und möchten die unangenehme Überstimulation vermeiden.
Hochsensible Menschen sind sehr gewissenhaft. Sie erledigen ihre Aufgaben mit großer Sorgfalt und Verlässlichkeit. Auch haben sie hohe Ansprüche an sich und andere. Sie möchten alles richtig machen und Fehler sollen vermieden werden. Viele streben nach Vollkommenheit und neigen zu Perfektionismus. Diese Eigenschaft drückt sich auch in hohen ethischen Werten und Gerechtigkeitssinn aus. Ungerechtigkeit ist für Hochsensitive schier unerträglich. Viele leben bewusst und möchten so z.B. durch vegane/vegetarische Ernährung das Leid der Welt mildern. Auch die überaus hohe Empathie kommt hier zum Tragen. Wenn man mit Tieren, Menschen, der Natur mitfühlt, kann man leidvolle Zustände nicht mehr einfach übergehen. Aber auch im direkten Kontakt zeigt sich die Empathie. Hochsensible können sich gut in andere hinein fühlen und nehmen deren Stimmungen auf. Das kann bei manch einem so stark sein, dass er nicht mehr zwischen seinen eigenen und den Gefühlen der anderen Person unterscheiden kann. Hochsensitive Menschen spüren, was der andere braucht. Sie sind gute und verständnisvolle Zuhörer und haben ein dienendes Herz. Ein harmonisches Miteinander ist ihnen wichtig.
Hochsensible Menschen verfügen über eine stark ausgeprägte Intuition. Diese verhilft zu einer (schnellen) Einschätzung einer Situation oder eines Sachverhalts ohne den Einsatz des Verstands. Dazu gehören auch sich bestätigende Vorahnungen, die für Außenstehende übersinnlich wirken können. Nicht zuletzt aus diesem Grund verheimlichen oder misstrauen Hochsensible oft ihrem ,,Bauchgefühl“.
Zum Schluss sei noch die Naturverbundenheit genannt. Hochsensitive Menschen sind gerne draußen – im Garten, im Wald – und tanken dort auf. Die Natur hat eine beruhigende und erdende Wirkung. Und gerade die sprichwörtliche Natürlichkeit wird von hochsensiblen Menschen tief geschätzt.
Hochsensibilität ist also ein komplexes Persönlichkeitsmerkmal, das sich auf das ganze Leben auswirkt.
Mein Buch: ,,Du darfst hochsensibel sein – Praxisbuch zur Hochsensibilität.“ (Oneiros Verlag)
Wenn du wissen möchtest, ob du hochsensibel bist, kannst du einen gratis Test machen auf http://www.zartbesaitet.net
Gerne unterstütze ich dich im Umgang mit deiner Hochsensibilität.
Melde dich einfach für ein kostenloses und unverbindliches Kennenlerngespräch bei mir.
Alles Liebe
Michaela Rödl
(Soz.päd., psychol. Beraterin)
Beratung und Coaching für hochsensible Menschen